Ein Abend im Spätsommer
Friedo Lampe und sein kleines, feines Oeuvre
Wer kennt sie nicht, die langen Spätsommerabende, schwer von der Hitze des Tages und von einer Trägheit, die idyllisch
anmutet? Menschen bevölkern die Straßen und Cafes, man grillt auf den Wiesen am Fluss, Musik dringt von überall her,
und beiweilen sitzt jemand am geöffneten Fenster, ein Bier in der Hand, den Blick zu den Sternen. An solchen Abenden
herrscht eine müde Beschaulichkeit, die man zu keiner anderen Jahreszeit findet und die nur manchmal, etwa durch ein
heftiges, kurzes Gewitter, unterbrochen wird. An einem solchen Abend spielt auch Friedo Lampes Erstling, Am Rande der
Nacht, der 1933 erschien, sogleich verboten wurde und danach für lange Zeit dem Vergessen anheim fiel.
Ein Sommerabend in einer norddeutschen Hafenstadt, deren Züge Bremen erkennen lassen; ein loses Figurenensemble,
das alle Bereiche umfasst, scheinbar willkürlich aus der Menge herausgegriffen - Seeleute, Artisten, Studenten, Kinder,
Hausfrauen. Eine Vielzahl von parallelen Handlungen, zusammengehalten durch den Ort und die verstreichende Zeit, in
medias res beginnend und im Nirgendwo endend, ohne dass die Faden zu einem klassischen Ende
zusammengesponnen würden. Das Panoramabild einer (klein-)bürgerlichen Welt, deren Fassade rissig, deren Existenz
bedroht ist. Orte bürgerlicher Idylle scheinen verzerrt, bedrückende Enge liegt uber den Hausern, und in den Kanälen
lauern Ratten, die mit dem Einbruch der Nacht hervorkommen und die Wiesen bevölkern, auf denen Minuten zuvor noch
Kinder spielten. Die Geruhsamkeit des Sommerabends weicht, je dunkler es wird, sexuellen Begierden, Rausch,
Gefühlen von Einsamkeit und Verzweiflung.
Diese moderne Ausrichtung findet sich auch im Erzählstil wieder, der Lampe als Avantgardisten ausweist: Geschult an
Joyce und Dos Passos verwendet er damals neue Techniken und Formprinzipien, sei es der innere Monolog, die
Kamerasicht und die Multiperspektive, sei es der Verzicht auf eine zentrale Handlung und einen Protagonisten.
Bemerkenswert dabei ist die Dezenz, mit der er diese Mittel in die Erzählung einbaut: Bekennt sich beispielsweise
Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) geradezu ostentativ zur Avantgarde, so findet man sie in Am Rande der Nacht erst
auf den zweiten Blick, so leicht und glatt fließt die Erzahlung dahin, so fein ist das Neue mit dem traditionellen Erzählen
verwoben. Noch deutlicher lässt sich dies in Septembergewitter (1937) sehen, der zweiten großen Erzahlung Lampes:
Kunstvoll erzählt und perspektivisch äußerst trickreich, ist sie doch im Grunde eine Dorfidylle in der Tradition Stifters,
wenn auch unter negativen Vorzeichen. Ein Ballon fährt über eine kleine Ortschaft, während im Hintergrund ein Gewitter
aufzieht. Aus der Perspektive der Reisenden wirkt alles malerisch, doch dort ist ein Lustmord geschehen, und viele der
Bewohner tragen dunkle Geheimnisse in sich. Das Geschehen entwickelt sich in der Spannung vor dem Sturm, in der
schwülen Luft, das Gewitter wird kathartische Wirkung haben. Nicht nur stilistisch verbindet Lampe Tradition und
Moderne, er versteht es auch, alte Genres behutsam zu modernisieren, ohne ihnen den Zauber zu nehmen.
Friedo Lampe war jedoch nicht einzig ein bemerkenswerter Schriftsteller, er hatte auch die traurige Gabe, stets zur
falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Am Rande der Nacht erschien wohl nur ein paar Monate zu spät, um bekannt zu
werden; im Spätjahr 1933 ausgeliefert, wurde es wenige Tage nach dem Erscheinen auf die sogenannte "schwarze Liste“
der Nazis gesetzt und konnte somit keine Leser mehr finden. Die Verfallsmetaphorik des Buches, gepaart mit der
unverhüllten Darstellung von Homosexualität und Sadomasochismus, erschien den Zensoren inakzeptabel.
Septembergewitter wurde vor Weihnachten 1937 zu spät ausgeliefert und blieb in den Regalen liegen; da war er schon
38 Jahre alt. Die Druckbögen seiner Novellensammlung Von Tür zu Tür, die 1944 erscheinen sollte, wurden bei einem
Bombenangriff zerstört. Tragisch ist auch das Ende Friedo Lampes: Durch eine Knochentuberkulose vom Dienst an der
Waffe befreit, hatte er die Kriegsjahre in Berlin als übersetzer verbracht. Am 2. Mai 1945, wenige Tage vor Kriegsende,
geriet er in Klein-Machnow bei Berlin in eine sowjetische Kontrolle. Die Soldaten hielten ihn für einen SS-Angehörigen,
vielleicht weil er, abgemagert, seinem Passbild nicht mehr ähnlich sah, und erschossen ihn auf der Stelle.
Zeitlebens war Lampe nur einem kleinen Kreis literarisch Interessierter bekannt gewesen, und dies änderte sich nach
dem Krieg nicht, wenngleich ihn viele Freunde mit einem Nachruf bedachten, darunter Wolfgang Koeppen, Horst Lange,
Heinz Piontek und Wilhelm Emanuel Süskind. Johannes Pfeiffer edierte das Gesamtwerk, das 1955 bei Rowohlt erschien
und nur eine Auflage erlebte; ebenso erging es der leicht veränderten, 1986 von Jürgen Dierking und Johann-Günther
König herausgegebenen Neuauflage. Lampe bleibt ein weithin Unbekannter, wenngleich er im Kontext der Forschung zur
Literatur der dreißiger Jahre seit den achtziger Jahren vermehrt gewürdigt wird. 1999 erschien im Wallstein-Verlag eine
Neuauflage von Am Rande der Nacht, Septembergewitter folgte zwei Jahre später.
Neben seiner außerordentlichen stilistischen und inhaltlichen Qualitäten ist das Werk Lampes auch ein gutes Beispiel für
die "lost generation“ deutscher Autoren, die während oder kurz vor dem Nationalsozialismus zu publizieren begannen.
Oft unpolitisch und wenig am Tagesgeschehen interessiert, versuchten sie sich innerhalb der eng gesteckten Grenzen
künstlerisch zu entfalten, drückten in symbolreicher, lyrischer Sprache aus, was um sie geschah und was doch keiner
aussprach. Obwohl nur wenige Romane dieser Zeit den Nationalsozialismus thematisieren (die Gründe liegen auf der
Hand), glaubt man seine Anwesenheit doch oft zwischen den Zeilen zu spüren. Die Thematisierung der Schuld in den
Jahrzehnten nach dem Krieg, die oft mit einer Aufwertung sogenannter Widerstandsliteratur einherging, hat lange den
Blick auf eine Reihe interessanter Schriftsteller verdeckt, die zu Unrecht vergessen worden sind. Friedo Lampe wäre
einer der ersten, an die man sich erinnern sollte.
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